Misty – The Erroll Garner Story
Georges Gachot, Schweiz, 2024o
Der geniale autodidaktische Pianist und Komponist Erroll Garner hat den Jazz von den 1940er bis in die 1970er Jahre mitgeprägt. Sein Stück Misty, das er angeblich zwischen zwei Konzerten im Flugzeug komponierte, wurde sofort zu einem der grossen Jazz-Standards und ist bis heute eine der meistgecoverten Balladen der Welt. Wer war der Mann hinter dem stets freundlichen Lächeln aus den Ghettos von Pittsburgh?
Der musikalischen Entdeckungsfreude des gebürtigen Franzosen und wahlzürcher Regisseurs Georges Gachot verdanken wir schon Porträts von Legenden wie Martha Argerich, Maria Bethânia und João Gilberto. Nun hat sich Gachot einem Idol seiner Jugend zugewandt, dem amerikanischen Pianisten Erroll Garner (1921-1976), der die grosse Zeit des Swings mit seinen stupenden Läufen und perlenden Arpeggios in die fünfziger und sechziger Jahre verlängerte und einer der erfolgreichsten Jazz-Virtuosen überhaupt wurde. Das Problem dabei: Garner starb vor bald fünfzig Jahren, es lag wenig Filmmaterial vor, darunter viele Aufnahmen aus der bildtechnisch bescheidenen Frühzeit des Fernsehens. Gachot löst es, in dem er zwei der letzten überlebenden Begleitmusiker Garners aufstöbert, zudem die (damals) blutjunge Geliebte aus Garners letzten Jahren und eine Tochter, die Garner fast lebenslang verleugnete. Die beiden alten Kämpen berichten mit einer Mischung von Bewunderung und kritischer Distanz von der unzähmbaren Spielfreude und sanft lächelnden Egomanie des Maestro, der mit drei Jahren das Klavier für sich entdeckt hatten, nie Noten Lesen lernte, ganze Studioalben in einem Tag einspielte und seine Mitspieler mit seinen improvisierten Setlists laufend überrumpelte. In einer der schönsten Szenen sitzen sie nochmals am Schlagzeug und stehen am Bass, während ihnen ein Garner-Tune am unbesetzten Flügel den Takt vorgibt. Trauriger, doch auch farbloser fallen die Erinnerungen der beiden Frauen aus. Für sie scheint Garner als Mensch – vielleicht wie für sich selbst – ein Rätsel geblieben zu sein, ihre Interessen überging er oft genug nonchalant. Klar wird: Die genuine Liebe des genialen Pianisten und Komponisten galt der Musik, doch die klingt bei seinen Auftritten bis heute, als würde sie gerade erfunden.
Andreas Furler